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Neuropelveologie

Neuropelveologische Behandlung von Erkrankungen der Beckennerven

Marc Possover,
Oktober 1, 2024

Die Pathologie der Beckennerven, vor allem der somatischen Beckennerven, ist ein noch unbekannter Sektor in der Medizin. „Beckenspezialisten“ befassen sich mit den Erkrankungen der Beckenorgane - nicht der Beckennerven, während Neurologen und Neurochirurgen sich zwar mit den Nerven beschäftigen, aber nicht mit denen des Beckens. Die Neuropelveologie ist die neue Fachdisziplin, die sich gezielt den Erkrankungen der Beckennerven widmet. Die Neuropelveologie offeriert neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten bei der Behandlung chronischer ungeklärter Beckenschmerzen bzw. Funktionsstörungen, welche aus Sicht des neurologischen Verständnisses plötzlich logisch erscheinen. Die Neuropelveologie ermöglicht vielen Patienten mit chronischem „Becken-Schmerz-Syndrom“ nicht nur eine symptomatische, sondern auch ätiologische Behandlung. Diese neue Fachdisziplin ist nicht nur für Gynäkologen, Chirurgen und Urologen ein Muss geworden, sondern auch für allgemeine Ärzte und Schmerztherapeuten, nicht zuletzt, um solche Erkrankungen erkennen zu können und den Patienten die Chance einer kurativen Behandlung anbieten zu können. Die Königsdisziplin der Neuropelveologie ist vermutlich die Implantation von Stimulationselektroden an den Beckennerven zur Wiederherstellung der Gehfunktion bei querschnittgelähmten Patienten. Neuere Untersuchungen zeigen sogar, dass durch die elektrische Dauerstimulation der Beckennerven willkürliche Funktionen mit eigenem mentalen Willen teilweise wiederhergestellt werden können. Die Neuropelveologie eröffnet zudem völlig neue Horizonte, diese reichen von der Behandlung der Sarkopenie und somit zur Aufhaltung des Alterungsprozesses, bis hin zu der medizinischen Unterstützung der Mars Mission.

Das Becken als Treffpunkt verschiedenster medizinischer Disziplinen

Neben dem Gehirn und dem Rückenmark gibt es eine dritte Stelle im Körper, die viele wichtige Nerven enthält - das kleine Becken. Obwohl sich drei verschiedene Fachdisziplinen mit den Beckenorganen beschäftigen – Viszeralchirurgie, Urologie und Gynäkologie – und sich Neurologen und Neurochirurgen auf die Behandlung von Nervenschädigungen des Gehirns und des Rückenmarks spezialisiert haben, hat sich die Diagnosestellung und Therapie bezüglich der Beckennerven bislang kaum entwickelt.

Im Rückenmark örtlich eng zusammenliegend, trennen sich die Nervenwurzeln im kleinen Becken in einzelne Nervenäste für die Blase, den Darm und die Sexualität, während sich die Nerven der unteren Extremitäten in die somatischen Nerven, vor allem den Ischias- und den Femoralnerv, bündeln. Während die meisten peripheren Nerven relativ oberflächlich und bei einem operativen Eingriff gut erreichbar sind, sind die Beckennerven tief liegend, ventral des Os sacrum, hinter dem Mastdarm und den iliakalen Gefässen verborgen. Somit sind sie für neurologische Untersuchungen und operative Behandlungen quasi unerreichbar.

Die Neuropelveologie füllt als neue, kombinierte Disziplin diese Lücke. Die Neuropelveologie befasst sich mit der Diagnose und Behandlung der Beckennerven und des Plexus. Für die Diagnosestellung der Pathologie der Beckennerven bedient sich die Neuropelveologie unterschiedlichen Wissens verschiedener Fachrichtungen und deren etablierten Vorgehensweisen. Zentral bleibt die Lehre der pelvinen topographischen und funktionellen Neuro-Anatomie, ohne dessen absolute Kenntnis die Neuropelveologie nicht zu verstehen ist. Die neuropelveologische Diagnose ist rein klinisch, basiert auf einer exakten „neuropelveologischen“ Anamnese und der digitalen (Trigger-Punkt, Hoffmann-Tinel-Zeichen) und sonographischen Untersuchung der Beckennerven auf vaginalem bzw. rektalem Weg – ein ungewöhnlicher Untersuchungsweg für Neurologen. Die mögliche Ätiologie wird ebenfalls anamnestisch bzw. mittels eines Neuro-MRT eruiert. Aus der Neuro-Urologie stammt die Kenntnis der Dysfunktionen der verschiedenen Beckenorgane. Von der Neurochirurgie stammt das Wissen, wie ein kranker Nerv therapiert wird. Die Laparoskopie wird schliesslich zur ätiologischen Diagnose und Behandlung eingesetzt.

Aufgrund des zunehmend hohen Interesses an dieser neuen Fachdisziplin wurde 2014 die International Society of Neuropelveology gegründet. Diese Gesellschaft ist inzwischen weltweit vertreten und sorgt für eine zertifizierte Ausbildung in der Neuropelveologie.

«Rund 12 Prozent aller Frauen und Männer leiden an schwer behandelbaren Unterbauchschmerzen.»

Pathologien der Beckennerven - Symptome

Chronische Becken-/Unterleibsschmerzen sind keine Krankheit, sondern ein Symptom. Rund 12 Prozent aller Frauen und Männer (die Prävalenz variiert zwischen 10 und 39% der Bevölkerung) leiden an diesen schwer behandelbaren Schmerzen. Sehr häufig sind sie mit tiefen Rückenschmerzen und funktionellen Störungen der Beckenorgane assoziiert. Die Fülle an Symptomen gestaltet die Diagnosestellung extrem schwierig, wenn nicht verwirrend, und dies umso mehr, wenn orthopädische oder neurologische Symptome die Schmerzen begleiten. Viele dieser Patienten befinden sich in der chronischen Spirale der „iterativen Sprechstunde“ und werden psychotherapeutisch und medikamentös (Schmerzmittel, Antidepressiva...) behandelt, ohne dass eine mögliche ätiologische Behandlungsoption daraus resultiert. In der Neuropelveologie ist die Situation umgekehrt: umso mehr Symptome und Dysfunktionen, desto einfacher und sicherer ist die Diagnose zu stellen. Dabei muss der „neuropelveological way of thinking“ adoptiert werden, wonach die Lokalisation der Schmerzen und deren Ursache nicht übereinstimmen: die Schmerzen werden am Ende der Nerven empfunden (Beckenorgane, lumbosakrale Dermatome), während die Ursache irgendwo auf den Nervenbahnen zum Gehirn zu finden ist. Eine neuropelveologische Diagnosestellung folgt fünf Schritten:

  1. Sind die Schmerzen „viszeral“ oder „somatisch“?
  2. Welche Nervenbahnen transportieren die Schmerzinformationen?
  3. Evaluation der Höhe der Nervenpathologie (Becken vs Rückenmark vs Gehirn)
  4. Evaluation möglicher Ursachen
  5. Bestätigung der Diagnose und neuropelveologische Behandlung

Prinzipiell sollte an eine Pathologie der Beckennerven immer gedacht werden, wenn die Patienten folgende Symptome beschreiben:

  • Die Schmerzen werden sehr genau lokalisiert, ohne begleitende vegetative Symptome
  • Die Schmerzen werden als brennende oder elektrische Schmerzen beschrieben
  • Die Schmerzen werden in den lumbosakralen Dermatomen beschrieben, sprich
  • Bei Pathologie der lumbalen Nerven: im unteren Abdomen, der Leiste und/oder an der vorderen Seite der unteren Extremitäten
  • Bei Pathologie der sakralen Nerven: im tiefen Rücken, Gesäss, der genitoanalen Regionen und der hinteren Seite der untere Extremitäten.
  • Irradiationen strahlen vom Trigger-Punkt nach kaudal, nicht nach kranial
  • Je nach Ätiologie werden diese Schmerzen oft bei der Defäkation, dem Sitzen und ggf. der Periode verstärkt.

Dabei sind die drei häufigsten Becken-Neuropathien:

  • Die Läsion des Nervus genitofemoralis oder ilio-inguinalis mit Schmerzen in der Leiste (bzw. unterem Abdomen) mit Ausstrahlung in die vorderen Genitalien und/oder in den Oberschenkel
  • Die pudendale Neuralgie mit genitaler, perinealer und perianalen Schmerzen,
  • Die sakrale Radikulopathie in allen möglichen Variationen, tiefe Rücken-, Gesäss-, Genitoanal- und Ischiasnerv-Schmerzen, meisten begleitet von Blasen-/Darm-Funktionsstörungen wie Blasenretention, Verstopfung und Erektionsstörungen bei Nervenläsionen, oder wiederum Symptome einer Reizblase, eines Reizdarms oder in seltenen Fällen einer Hypersexualität, wenn die Nerven nicht verletzt, sondern irritiert sind.

 

Eine besondere klinische Form der Becken-Neuropathie ist die tiefinfiltrierende Endometriose des Ischias-Nervs: diese Form der Endometriose ist extrem zerstörerisch und kombiniert unerträgliche Ischialgien – zyklisch am Anfang der Erkrankung, permanent schon nach wenigen Monaten – mit Störungen bzw. dem Verlust der dorsalen und plantaren Flexion des Fußes. Diese Form der Erkrankung wächst tief im Ischiasnerv und zerstört ihn. Hormontherapien haben bei dieser speziellen Form der Endometriose definitiv keinen kurativen Wert und die Chirurgie muss unverzüglich in spezialisierten Händen erfolgen, bevor irreversible neurologische Ausfälle entstehen.

Die Laparoskopie ist schon seit mehr als 20 Jahren die Methode der Wahl zur Feststellung und Behandlung organischer Becken-Ursachen. Durch die laparoskopische Exploration der Beckennerven können Irritationen, Kompressionen, Verletzungen oder Tumore der Beckennerven festgestellt und behandelt werden. Die Therapie beruht auf der Adaptation neurochirurgischer Prozeduren an der Beckennerven per Laparoskopie:

  • die intrafasciculäre Neurolyse ggf. partielle Resektion des Ischias-Nervs bei der Endometriose des Ischias-Nervs.
  • die Dekompression von Nerven.
  • die Rekonstruktion von Nerven nach operativen Verletzungen.
  • Die Resektion von neurogenen (Schwannome, Teratome...) oder orthopädischen (Oestochondrosarkom) Becken-Tumoren.

 

Video: Laparoscopy Painful Vascular Compression Syndrome Sciatic Nerve

Video: Mesh complication - entrapment of the pudendal nerve left

Video: Endometriosis of the Sciatic Nerve with large infiltration of the pelvic sidewall

Video: Sciatic Nerve Endometriosis

Video: Paravaginal Tumor 12cm in diameter

Video: Treatment of Pelvic Schwannoma

Video: Laparoscopically Assisted Resection of a sacra-iliac Osteochondrosarcoma

Bei irreversiblen axonalen Schädigungen der Nerven (z.B. durch operationsbedingte Verletzungen) oder bei Nervenerkrankungen (Multiple Sklerose, Parkinson..) hilft die alleinige Befreiung der Nerven nicht. In diesem Fall stellt die Neuromodulation die nächste Methode der Wahl dar. Eine Stimulationselektrode wird per Bauchspiegelung (sog. LION Prozedur: Laparoscopic Implantation Of Neuroprothesis) in direktem Kontakt zum geschädigten Nerv platziert. Die Stimulation des Nervs mit niedriger Energie führt zu einer Schmerzreduktion. Mit einer Fernbedienung kann der Patient selbständig die Intensität der Stromabgabe bestimmen.

«Millionen von Patienten leiden an Funktionsstörungen der Beckenorgane.»

Funktionsstörungen der Beckenorgane - Die Behandlung aus Sicht eines Neuropelveologen

Funktionsstörungen der Beckenorgane sind vielfältig und betreffen unzählige Menschen. So klagt jede fünfte Frau, die in die Praxis des Frauenarztes kommt, über eine schwache Blase, während mindestens jeder sechste Erwachsene an einer überaktiven Blase leidet. Damit gehört das Krankheitsbild der überaktiven Blase zu einer der häufigsten Krankheiten und ist häufiger als z. B. Diabetes oder Rheuma. Funktionsstörungen der Beckenorganen betreffen alle Altersgruppen, nehmen jedoch mit wachsendem Alter zu, und betreffen mehr Frauen als Männer - von Erektionsstörungen abgesehen. Die Behandlung richtet sich nach dem Typ, dem Schweregrad und den zugrunde liegenden Ursachen. Dabei gibt es eine Reihe von Operationsmethoden zur Behandlung von Stuhl- und Harninkontinenz. Medikamente werden vor allem zur Behandlung der hyperaktiven Blase eingesetzt und sind aufgrund der möglichen unerwünschten Nebenwirkungen nicht unumstritten. Wenn aber alle übliche Methoden versagt haben oder aufgrund inakzeptabler Nebenwirkungen (Anticholinergikum) abgebrochen werden mussten, kann eine sakrale Nervenstimulation sehr hilfreich sein. Durch die Stimulation der Beckennerven können sowohl die Drangharninkontinenz (neurogene und idiopathische Reizblase) wie auch Blasenentleerungsstörungen (sowohl Retention als auch therapierefraktäre Stressinkontinenz), chronische Verstopfung (Obstipation) und Stuhlinkontinenz (Analinkontinenz) behandelt werden. Die sakrale Nervenstimulation konnte sich jedoch nicht wirklich in der Gynäkologie etablieren, nicht zuletzt, weil die Methode der Elektroden-Implantation ungewöhnlich für Gynäkologen ist, genauso wie der Umgang mit einem C-Bogen-System und mit Schrittmachern.

Neuropelveologen interessieren sich wiederum sehr für die Methode der elektrischen Stimulation der Beckennerven zur Behandlung neuropathischer Schmerzen, Dysfunktion der Beckenorgane bis hin zum Einsatz bei Pathologien/Verletzungen des Rückenmarks. Die Laparoskopie bietet eine einzigartige Möglichkeit, Stimulations-Elektroden an jedem einzelnen Beckennerv und den Plexus bringen zu können. Daher wurden verschiedene Methoden entwickelt; als erstes die „Sakralnerv LION Prozedur“, gefolgt von der „Pudendal Nerv LION Prozedur“. Dabei wurde erkannt, dass, um so selektiver und distaler die Implantation erfolgt, die Ergebnisse desto besser sind. Jedoch bleiben auch diese Techniken mehr oder weniger nur Neuropelveologen vorbehalten. Daher stellt die sog. „Genital-Nerv Stimulation“ eine vielversprechende Methode dar. Die Innovation liegt in der Kombination einer primären laparoskopischen Dissektion des Retzius-Raums (wie bei einer Bruch-OP) und einer vaginalen Einführung eines Applikators von unten wie bei einer TVT Intervention. Diese Technik benötigt keine besonderen Kenntnisse der Neuropelveologie und ist daher für Gynäkologen sehr einfach reproduzierbar. Dabei werden mit einer einzigen Elektrode sowohl der dorsale Nerv des Penis/der Klitoris, als auch die nervi pelvini splanchnici (Nervus cavernosus beim Mann) stimuliert. Die Methode sollte besonders bei der Behandlung der Reizblase, aber auch bei refraktärer Stress- und/oder Stuhl-Inkontinenz sowie ggf. Erektionsstörungen beim Mann Anwendung finden. Studien über die Erfolge der Methode laufen bereits.

Die Neuropelveologie – quo vadis?

Die Königsdisziplin der Neuropelveologie ist vermutlich die Implantation von Stimulationselektroden – die sog. "LION Prozedur“ – an den Beckennerven zur Wiederherstellung der Gehfunktion bei querschnittgelähmten Patienten. Durch die Stimulation der Beinnerven konnte in den letzten sechs Jahren schon über 20 Patienten dazu verholfen werden, mit Unterstützung von Gehhilfen wieder aufzustehen und „zu gehen“. Neuere Untersuchungen zeigen sogar, dass durch die elektrische Dauerstimulation der Beckennerven-Funktionen aufgrund einer Nervenerwachung sogar ein Nervenwachstums teilweise wiederhergestellt werden kann. Übliche Komplikationen bei Querschnittgelähmten wie Dekubitus-Läsionen, Osteoporose und Beinödeme können auf diesem Weg ebenfalls vermieden bzw. behandelt werden.

Video: LION Prozedur bei querschnittgelähmten Patienten

Somit bietet die Neuropelveologie nicht nur Hoffnungen und Behandlungsmöglichkeiten für Patienten, die an „Beckenschmerzen unklarer Genese“ oder „refraktären Funktionsstörungen“ der Beckenorgane leiden, sondern eröffnet neue Forschungsansätze für Erkrankungen, welche die Grenze des Beckens überschreiten, und findet dabei weitere revolutionäre Indikationen. Die LION Prozedur der somatischen Beckennerven ermöglicht eine steuerbare Dauerstimulation der grössten Muskeln des menschlichen Körpers – eine „in-body-FES“ (FES: Funktionelle Elektrische Stimulation). Durch diese im Körper integrierter „Trainingssystem“ könnte in nahe Zukunft durch eine bessere und längere Erhaltung der Skelettmuskulatur zur Prophylaxe bzw. Behandlung der Sarkopenie und somit zur Aufhaltung des Alterungsprozesses eingesetzt werden, aber auch als Prävention von Nebenwirkungen der Mikrogravitation im Weltall bei Astronauten während der Mars-Mission....

 

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