Wenn Frauen unter einer zyklischen Ischialgie mit beginnender Gefühllosigkeit im Gesäss oder im Bein leiden oder Bewegungseinschränkungen im Fuss wahrnehmen – eigenständig oder in Verbindung mit einem Taubheitsgefühl, sollte unbedingt eine tief infiltrierende Endometriose des Ischiasnervs als mögliche Ursache der Beschwerden in Betracht gezogen werden. Die Betroffenen beschreiben die Schmerzen als unerträglich quälend und brennend – im Becken, im Rücken, bis in die Beine und zum Fuss ausstrahlend. Oft ist ein normales Alltagsleben nicht mehr möglich. In diesem Fall muss umgehend eine laparoskopische Exploration des Ischiasnervs durch einen Neuropelveologen erfolgen.
Die Endometriose des Ischiasnervs bildet ein neues Kapitel in der Lehre und Behandlung der Endometriose. Diese besondere klinische Form der Becken-Neuropathie ist jedoch noch zu wenig bekannt. Der Verdacht auf diese Erkrankung kann mit einigen gezielten Fragen erhoben oder ausgeschlossen werden. Die Befragung sollte zur systematischen Befundung jeder Endometriose-Patientin gehören und kann durch jeden Arzt erfolgen, der sich die grundlegenden Kenntnisse der Neuropelveologie angeeignet hat.
Die Zukunft wird mit Sicherheit zeigen, dass die Endometriose des Ischiasnervs zwar selten, jedoch häufiger als bisher angenommen auftritt. Nicht zuletzt deshalb, weil der Grossteil der betroffenen Patientinnen primär aufgrund des nicht-gynäkologischen Charakters der Schmerzen eher bei Neurologen, Rückenspezialisten (Neurochirurgen, Orthopäden) oder Schmerztherapeuten vorstellig wird. Die Verbreitung der Wahrnehmung dieser Erkrankung muss somit nicht nur Gynäkologen nahe gebracht werden, sondern auch den oben genannten Kollegen.
Als Arzt wissen Sie, dass die Endometriose eine der häufigsten gynäkologischen Erkrankungen ist, an der viele Millionen Frauen und Mädchen weltweit leiden. Auch dass diese Erkrankung nicht nur Blutungsstörungen und Unterleibsschmerzen verursachen, sondern auch Beckenorgane wie Eierstöcke, Harnorgane oder den Darm befallen und teilweise zerstören kann, ist in Fachkreisen hinreichend bekannt. Diese letztere Form der Endometriose, auch „tief infiltrierende Endometriose“ (TIE) genannt, ist erfreulicherweise eher selten, muss jedoch aufgrund der möglichen schwerwiegenden Folgen ernst genommen werden.
Noch wenig bekannt ist hingegen die Endometriose der Beckennerven1. Die Beckennerven bestimmen sämtliche motorische Funktionen der Beckenorgane, des Beckenbodens und der Beine, wie Urinabsatz, Stuhlgang, Kontinenz, Orgasmus, Stehen, Gehen, Gleichgewicht und viele mehr. Zudem sind sie für die Weiterleitung sämtlicher „Gefühlsinformationen“ zum Gehirn, inklusive der Schmerzinformationen, verantwortlich. Dementsprechend sind die Beschwerden, die durch eine Endometriose der Beckennerven ausgelöst werden können, extrem vielseitig. Neben den gynäkologischen Beschwerden können unter anderem folgende Symptome auftreten:
Einer dieser Beckennerven ist der Ischiasnerv, der grösste Nerv des menschlichen Körpers. Er entsteht im kleinen Becken aus der Fusion der Sakralwurzeln, die wiederum direkt aus dem Rückenmark entstehen. Die Sakralwurzeln befinden sich im hinteren Kompartiment des Beckens in der Steiss-Gegend, nahe des Enddarms und der Harnleiter, während der Ischiasnerv eher in der Mitte des Beckens tief entlang des Beckenknochens verläuft, bevor er das Becken verlässt, um die Gesäss-Muskulatur und die Beine zu versorgen. Aus den Sakralwurzeln entstehen sämtliche Nerven für den Darm, die Harnblase, die Schliessmuskeln und die genitalen Organe. Somit stellen die Endometriose der Sakralwurzeln und die Endometriose des Ischiasnervs zwei verschiedene Erkrankungsformen dar, mit eigenen Symptomen und eigener Behandlung.
Die Neuropelveologie befasst sich mit der Diagnose und Behandlung der Beckennerven und des Plexus2. Sie umfasst sämtliche Kenntnisse aus der Neurologie, Urologie, Gastroenterologie und Gynäkologie, die für eine zuverlässige Diagnose der Endometriose des Ischiasnervs erforderlich sind. Für die Diagnosestellung nutzt die Neuropelveologie Wissen aus verschiedenen Fachrichtungen, was der Vielschichtigkeit der Erkrankung Rechnung trägt. Im Zentrum steht die Lehre der pelvinen topographischen und funktionellen Neuro-Anatomie.
Die Diagnose der Endometriose des Ischiasnervs stützt sich hauptsächlich auf eine exakte neuropelveologische Anamnese in Form einer korrekten und detaillierten Befragung der Patientin sowie auf eine neuropelveologische Untersuchung in Form einer digitalen (Triggerpunkt, Hoffmann-Tinel-Zeichen) und sonographischen Untersuchung auf vaginalem bzw. rektalem Weg – ein ungewöhnliches Vorgehen für Neurologen und Neurochirurgen. Die Bestätigung der Erkrankung kann jedoch nur durch eine Bauchspiegelung mit gezielter Darstellung und Inspektion des Ischiasnervs erfolgen.
Die Endometriose des Ischiasnervs führt zu einer typischen Ischialgie mit starken, nahezu unerträglichen brennenden oder elektrischen Schmerzen im tiefen Rückenbereich, im Gesäss, an der Oberschenkel-Rückseite bis hin zu den Waden und Füssen, vor allem an der äusseren Kante des Fusses. Diese Schmerzen können entweder nur in einigen dieser Bereiche oder in den gesamten hinteren Beinen („Ischiasnervschmerz“) auftreten. Ein entscheidender Unterschied zu ähnlichen Schmerzen bei Bandscheibenvorfällen: Bei der Endometriose des Ischiasnervs sind die vorderen Seiten der Oberschenkel schmerzfrei.
Vergleichbar mit den Unterleibsschmerzen können die Schmerzen – zumindest zu Beginn der Krankheit – nur während der Periode auftreten. Da die Endometriose des Ischiasnervs extrem zerstörerisch ist und der Nerv systematisch angegriffen wird, werden sich die Schmerzen jedoch früher oder später permanent auf einem hohen Level befinden und sich in den meisten Fällen während der Periode verstärken.
Die zunehmende Zerstörung des Nervs führt allmählich zu Taubheitsgefühlen in den Beinen, am häufigsten an der Fusssohle oder der äusseren Kante des Fusses bzw. der hinteren Seite der Beine. Dies geht einher mit einem Kraftverlust bzw. einer Bewegungseinschränkung des Fussgelenkes –, sowohl die dorsale als auch die plantare Flexion des Fussgelenkes sind eingeschränkt. Das Treppensteigen fällt den Patientinnen zunehmend schwerer und wird mit der Zeit unmöglich. Klinisch ist der Achileas-Reflex reduziert oder im Extremfall nicht mehr reproduzierbar.
Die chirurgische Behandlung dieser Erkrankung stellt aufgrund der tiefen Lage der Beckennerven, in gefährlicher Position hinter zahlreichen Becken-Blutgefässen, die grösste Herausforderung in der Chirurgie der Endometriose dar.
Der Versuch, eine Endometriose des Ischiasnervs hormonell oder lediglich mit Schmerzmitteln und Abwarten zu behandeln, ist fahrlässig. Denn das Fortschreiten einer solchen tief infiltrierenden Endometriose ist nicht aufzuhalten und resultiert in zunehmenden und irreversiblen Nervenschädigungen. Eine Endometriose des Ischiasnervs ist nicht gleichzusetzen mit einer Darm- oder Blasen-Endometriose: Es gilt, jeden Millimeter des Nervs zu erhalten, da jede noch so minimale Zerstörung zu neurologischen Ausfällen führen wird.
Die einzige wirksame Behandlung der Endometriose des Ischiasnervs ist die Chirurgie per Bauchspiegelung (Laparoskopie) in den Händen eines Experten. Jeder Operateur, der solch einen Eingriff vornimmt, muss sich seiner Fähigkeiten und Kenntnisse der Anatomie der Beckennerven und Beckengefässe sicher sein, denn diese Operationen bergen hohe Risiken. Bei einer unvollständigen Operation erschweren Veränderungen der anatomischen Verhältnisse, Verwachsungen und Narbengewebe jeden weiteren Eingriff. Diese Endometriose kann auch nicht durch das Gesäss operiert werden, denn die Erkrankung entsteht im Becken und wächst entlang des Nerv ausserhalb des Beckens bis hin in die Gesässregion und nicht umgekehrt.
Prof. Possover hat sich auf die neuropelveologische Behandlung der tief infiltrierenden Endometriose des Ischiasnervs spezialisiert. In einer Serie von über 259 laparoskopischen Operationen der tief infiltrierenden Endometriose des Ischiasnervs konnte Prof. Possover zeigen, dass die Chirurgie per Bauchspiegelung zu einer signifikanten Schmerzreduktion führt4. Sofern die Kontinuität des Ischiasnervs erhalten bleibt, wird sich der Nerv erholen und die natürliche Funktion der Beine wird wieder hergestellt.
Live-Aufnahmen einer Operation der Endometriose des Ischiasnervs:
Nach der Operation leiden die Patientinnen noch einige Zeit an neuropathischen Schmerzen und motorischen Störungen, deren Ausmass möglicherweise sogar noch zunimmt. Doch nach ca. drei bis fünf Jahren erholen sich die Funktionen des Ischiasnervs soweit, dass – in Kombination mit einer muskulären Kompensation – wieder ein normales Gehen möglich ist. Trotz der vollständigen Resektion der Endometriose und der Erhaltung einer gewissen Kontinuität des Ischiasnervs sind zwei weitere Faktoren unerlässlich: die postoperative Physiotherapie und die medizinische Behandlung mit neuroleptischen Medikamenten, die direkt nach dem Eingriff begonnen werden muss, um postoperative neuropathische Schmerzen zu kontrollieren und die Entstehung von Phantomschmerzen zu vermeiden.
Diese Form der Endometriose ist weniger aggressiv und wächst meist um die Nerven, ohne diese zu zerstören. Daher sind Taubheitsgefühle und motorische Einschränkungen eher selten. Die Endometriose der Sakralwurzeln entsteht in der Regel durch eine seitliche Extension der Erkrankung aus einer TIE der Scheide (Septum rectovaginale), des Enddarms oder des Harnleiters. Aufgrund dieser Besonderheit sind eher die untersten drei der insgesamt fünf Sakralwurzeln betroffen. Diese Nerven versorgen die Ano-Genital-Region sowie die hintere und innere Beinregion. Sie sind für die Blasen- und Darmfunktion sowie die Turgeszenz der Klitoris zuständig.
Die Schmerzen werden von den betroffenen Patientinnen ebenfalls als sehr stark und brennend empfunden. Sie treten im Vulva-Bereich (Vulvodynie), im Damm und perianal (Pudendalschmerz) sowie an der Innenseite des Gesässes bis hin zur inneren/hinteren Seite der Beine auf. Auch bei der Endometriose der Sakralwurzeln verstärken sich die Schmerzen während der Periode. Blase und Darm sind gereizt –, mit Symptomen ähnlich einer Blasenentzündung oder einem „Reizdarm“. Die Nerven bleiben meist unbeschädigt, weshalb die Patientinnen bei der Blasen- und Darmentleerung nur selten Probleme haben.
Jede Patientin mit einer tief infiltrierenden Endometriose (TIE) der Scheide, des Darms oder des Harnleiters muss nach solchen Nervenschmerzen befragt werden! Auch bei dieser Form der Erkrankung besteht die Behandlung in der chirurgischen Entfernung der Endometriose, wobei die Nerven lediglich vom Gewebebefall befreit und somit erhalten werden.
Die neue Fachdisziplin der Neuropelveologie stösst bei Ärzten weltweit auf zunehmend grosses Interesse. 2014 wurde die International Society Of Neuropelveology gegründet, die engagierten Ärzten eine zertifizierte Ausbildung in der Neuropelveologie anbietet. Der neuropelveologische Ansatz offeriert neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten zur Behandlung chronischer ungeklärter Beckenschmerzen bzw. Funktionsstörungen, hinter denen sich eine Endometriose des Ischiasnervs oder der Sakralwurzeln verbergen kann.
Sie möchten sich als passionierter Mediziner in die Fachdisziplin der Neuropleveologie einarbeiten, um Ihren Patienten, die möglicherweise an einer Endometriose des Ischiasnervs oder der Sakralwurzeln leiden, die Chance auf eine ätiologische und somit kurative Behandlung zu bieten? Dann finden Sie hier weitere Informationen:
1 Possover M, Schneider T, Henle KP. Laparoscopic therapy for endometriosis and vascular entrapment of sacral plexus. Fertil Steril 2011 Feb;95(2):756-8
2 Possover M. The neuropelveology: a new specialty in medicine. Pelviperineology 2010; 29:123-124
3 Possover M, Andersson KE, Forman A. Neuropelveology: An Emerging Discipline for the Management of Chronic Pelvic Pain. Int Neurourol J. 2017 Dec;21(4):243-246
4 Possover M. Five-Year Follow-Up After Laparoscopic Large Nerve Resection for Deep Infiltrating Sciatic Nerve Endometriosis.J Minim Invasive Gynecol. 2017 Jul - Aug;24(5):822-826
Video-Material
Power Point Präsentation:
The Neuropelveology – Endometriosis of the sciatic nerve
Website ISON:
International Society Of Neuropelveology
Ausgewählte Publikationen auf diese Thematik
Possover M. Neuropelveology – Latest developments in Plevic Neurofunctionnal Surgery – 1Ed 2015 – ISBN: 978-3-9524533-0-8.
Possover M. Five-Year Follow-Up After Laparoscopic Large Nerve Resection for Deep Infiltrating Sciatic Nerve Endometriosis. J Minim Invasive Gynecol. 2017 Jul - Aug;24(5):822-826.
Possover M. Endometriosis – A typical pathology in focus oft he neuropelveology – World Endometriosis Society 2015 –www.endometriosis.ca
Possover M, Andersson KE, Forman A. Neuropelveology: An Emerging Discipline for the Management of Chronic Pelvic Pain. Int Neurourol J. 2017 Dec;21(4):243-246.
Possover M, Forman A, Rabischong B, Lemos N, Chiantera V. Neuropelveology: New Groundbreaking Discipline in Medicine. J Minim Invasive Gynecol. 2015 Nov-Dec;22(7):1140-1.
Possover M. Laparoscopic therapy for endometriosis and vascular entrapment of sacral plexus. Fertil Steril 2011; 95(2): 756-8.
Possover M. The neuropelveology: from the laparoscopic exposure of the pelvic nerves to a new discipline in medicine? Gynaecol Surg 2011; 8(2): 117-119.
Possover M. New surgical evolutions in management of sacral radiculopathies. Surg Technol Int 2010;19: 123-8.
Possover M. The neuropelveology: a new speciality in medicine. Pelviperineology 2010;29; 123-124.
Possover M. Laparoscopic management of endopelvic etiologies of pudendal pain in 134 consecutive patients. J Urol 2009;181: 1732-1736.
Possover M. Laparoscopic neurolysis of the sacral plexus and the sciatic nerve for extensive endometriosis of the pelvic wall. Minim Invasive Neurosurg 2007; 50: 33-36.
Possover M, Chiantera V. Isolated infiltrative endometriosis of the sciatic nerve: about three cases. Fertil Steril 2007;87: 417-9
Die von Prof. Possover gegründete Fachdisziplin der Neuropelveologie offeriert neue ...
Chronische Schmerzen im Bereich des Ischiasnervs, im ...
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